16. August 2010

Der Algorithmen-Denker

KOHLER, WI - AUGUST 15: Martin Kaymer of Germany sits next to the Wanamaker Trophy while he is interviewed during a press conference after winning the 92nd PGA Championship on the Straits Course at Whistling Straits on August 15, 2010 in Kohler, Wisconsin. Martin Kaymer defeated Bubba Watson in a three-hole aggregate playoff. (Photo by Stuart Franklin/Getty Images)
Irgendwann kommt der Tag, an dem man still sich selber sagt: "Das habe ich kommen sehen." Natürlich wäre es schön, man hätte dann auch ein paar Zeugen *) aufzuweisen, die bestätigen können, dass man durchaus das Zeug zum Orakel besitzt. Aber tatsächlich liegt man mit seinen Prophezeihungen häufiger falsch als richtig. Sport ist unberechenbar. Unvorhersehbar. Und deshalb ist er faszinierend.

Golf ist an und für sich eher weniger faszinierend. Ein langsames, stilles Spiel. Etwas für Einzelgänger. Und etwas für Bewegungsästheten, die nachvollziehen können, was alles in einem Körper aufs Feinste koordiniert ablaufen muss, damit der Ball exakt dort landet, wo man ihn hinhebeln will.

Das kann man als Spieler auf zweierlei Weise probieren: Mit dem hero shot, bei dem man sein Können bis an die Grenze des Mutmaßlichen testet. Oder mit dem percentage play – die Nummer sicher sozusagen, bei dem man das Risiko möglichst ausschaltet und defensiv denkt.

In den meisten Augenblicken, wenn Martin Kaymer defensiv spielt, sieht man ihm das nicht an. Der Mann wirkt auf dem Platz zugeknöpft wie eine enge Hose. Aber die Algorhyithmen in seinem Gehirn arbeiten trotzdem weiter. Kaymer wäre wohl im Fußball nicht der Typ Torwart und nicht Ausputzer gewesen, sondern eher im vorderen Mittelfeld gelandet, wenn auch sorgfältig und vorsichtig auf den sicheren Pass bedacht. Aber Fußball hat er, obwohl als Jugendspieler richtig gut am Ball und auf dem Weg in den oberen Talentezirkel, dann lieber wieder aufgegeben. Zuviele Imponderabilien? Zuviele Verletzungsrisiken? Vielleicht. So richtig gründlich hat er das wohl nie überlegt. Es gab schließlich diese vielversprechende Alternative: Golf. Das Spiel für Self-Made-Men. Da bist du auf niemanden angewiesen.

Ich bin diesem Algorhyithmen-Denker vor zwei Jahren bei unserem ersten Gespräch ein wenig auf die Schliche gekommen, als ich ihn fragte, weshalb er sich in seinem ersten Jahr auf der European Tour keinen festen Caddie genommen hatte. Seine Antwort war das Gegenstück zu einem percentage play auf dem Platz: Er wollte tatsächlich lieber auf jeder Übungsrunde alleine den Wagen mit dem Bag über die Anlage ziehen und sich an jeder kritischen Stelle über die Besonderheiten von Grüns und Fairways Notizen machen, als sich darauf zu verlassen, dass sein Caddie alles aufschreibt und ihm im entscheidenden Moment als Information anbietet, damit er – Kaymer – abwägen kann, wie er den jeweiligen Schlag imaginiert und umsetzt. Er wollte nicht abhängig sein und nahm lieber den Mehraufwand in Kauf. Vergeblich würde dieser Aufwand nicht sein, dachte er. Er hatte den Plan, auch in den Jahren danach auf diesen, denselben Plätzen zu spielen. Jedes speicherbare Detail würde ihm irgendwann wieder zugute kommen. Er nahm sich für das Turnier dann immer einen lokalen Caddie. Einer, der den Platz kennt. Nicht einer, der Kaymer und seine Algorhyithmen kennt. Und einer, der nicht irgendwelche finanziellen Ansprüche stellen würde. Das war in manchen kippligen Situationen im Turnier von Nachteil. Aber Kaymer behauptete, ein ständiger Caddie hätte ihm nichts genützt. Nun gut. Inzwischen setzt er auf Craig Conolly (Kaymer: "Ein sehr sympathischer Kerl. Er ist Schotte. Es ist sehr lustig mit ihm auf dem Platz, und er hat sehr viel Erfahrung.")

Kaymer war – mit Conolly – am Sonntag schon früh sehr nahe am bislang größten Erfolg seiner Karriere, als er kurz vor Schluss der regulären vierten Runde der PGA Championship mit zwei Schlägen Vorsprung das Feld anführte. Aber er war danach auch wieder sehr weit weg. Selbst als er den schwierigen Fünf-Meter-Putt auf dem 18. Grün zum Par einlochte und damit den Gleichstand mit dem Amerikaner Bubba Watson erzielte, bedeutete das nicht mehr als eine hauchdünne Chance auf ein Stechen. Und dazu musste der zweite Amerikaner Dustin Johnson, der hinter ihm auf der 17 mit einem Birdie in Führung gegangen war, auf der 18 einen Fehler produzieren. Johnson produzierte tatsächlich sogar zwei (einer war sehr bizarr und führte zu zwei Strafschlägen und sorgte für den Absturz auf den fünften Platz).

Auch im Stechen gegen Watson schien Kaymer zunächst wieder weg vom Fenster. Denn Bubbas Birdie auf der 10, dem ersten Playoff-Loch, wirkte souverän. Sein Par im Vergleich dazu fast schon mühevoll. Man denkt dann: Der andere hat das Momentum. Der hat psychologisch die Oberhand. Der muss jetzt nur noch fehlerfrei weiterspielen und hat das Ding in der Tasche. Mal abgesehen davon, dass der junge Herr K. an der 17 mit einem kaltschnäuzigen Putt zum Birdie gleich zog: Die dritte Bahn im Stechen zeigte, wie er in richtig heiklen Augenblicken an die Aufgabe herangeht. Weil sein Gegner mit einem riskanten Annäherungsschlag den Ball im Bach vor dem Grün versenkte und sich so einen Strafschlag einfing, verzichtete der Rheinländer auf jede Showeinlage. Er spielte auf Supersondersicher und gewann – unspektakulär – mit einem Schlag Vorsprung.

Viel Euphorie konnte man ihm anschließend nicht anmerken. Was sicher an dem Prozess lag, der vorher in seinem Gehirn stattgefunden hatte. Der Mann lebt nicht von Endorphinen. Der lebt von... ja, von was eigentlich?

Er hat auf jeden Fall den richtigen Beruf gewählt (was man schon vor ein paar Jahren sicher sagen konnte, als auf der untersten Satelliten-Tour für junge Profis die Gleichaltrigen ziemlich alt aussehen ließ. Ich habe ihm damals bereits so etwas zugetraut wie diesen Erfolg von gestern. Genauso wie ich nach seinen ersten US Open in La Jolla gedacht habe, dass er auf einem langen, schweren Platz eher ein Major gewinnt als auf diesem aalglatten Putting-Parkett in Augusta.

Alles weitere wird sich zeigen: Platz 5 der Weltrangliste with a bullet. Ryder Cup im Oktober. Ich hatte bereits angenommen, dass er nach einem solchen Resultat auf die amerikanische PGA Tour wechselt. Wolfgang Scheffler in der FAZ zitiert ihn jetzt folgendermaßen: „Es war immer mein Ziel, Mitglied der PGA-Tour zu werden. Ich möchte mehr in Amerika spielen, weil ich weiß und fühle, dass mein Spiel besser wird, wenn ich in Amerika spiele. Ich will mehr in Florida spielen, weil ich mein Spiel auf Bermudagras verbessern will.“ Wir sehen uns also wieder. Spätestens im nächsten Jahr.

*) einstige Prophezeiungen zu Kaymer in American Arena:

"...der ... in zwei Jahren das Zeug haben wird, um sein erstes Major zu gewinnen..." (22. Juni 2008)

"Er gehört inzwischen zu den Topleuten der Branche. Und wenn man davon ausgeht, dass bei jemandem mit seinem Talent tatsächlich noch Luft nach oben ist, darf man gefahrlos Folgendes prophezeien: Dieser Typ wird sich demnächst in den Top Ten festsetzen und bei wichtigen Turnieren – den sogenannten Majors – mit einer Handvoll von Konkurrenten um die Pötte spielen..." (12. Juli 2009)

18 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Alles schön, aber es heißt trotzdem "Algorithmen".

Jürgen Kalwa hat gesagt…

Oh, wie peinlich.... Wird gleich geändert.

Unknown hat gesagt…

Ein schöner Bericht zu einem klasse Golfer! Aufgrund der Infos auf dieser Seite habe ich Martin Kaymer immer mehr verfolgt und natürlich auch den tollen Sieg gestern Abend gesehen.
Da kann man nur sagen: weiter so! (sowohl an den Golfer wie auch an den Autor)

Anonym hat gesagt…

Der Beitrag ist grad das dritte oder vierte Mal im RSS-Reader aufgetaucht. Definitiv zu viel. Schade um den netten Blog, aber das ist schon Spam für mich.

Jürgen Kalwa hat gesagt…

Ich verstehe leider zu wenig davon, wie Reader funktionieren. Ich nehme an, dass es damit zusammenhängt, dass ich Beiträge hin und wieder aktualisiere oder Schreibfehler korrigiere. Ich wünschte, das Problem ließe sich beheben. Aber ich glaube, das wird nicht möglich sein.

brautkleider hat gesagt…

wie dieser Beitrag sehr viel, thank u für den Austausch mit uns!

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