21. Mai 2008

Dem Redakteur ist nichts zu schwör

Es gibt Leute in der Medienbranche, die haben einen Hang zur Vorverurteilung. Sie wollen Klarheit und Eindeutigkeit. Und solche Wörter wie "mutmaßlich" oder "angeblich", "Verdacht" oder "Vorwurf" stehen ihnen dabei im Weg. Es gibt auch welche, die keine Ahnung haben. Und trotzdem geradewohl drauf los schreiben. Was meistens auf das gleiche herauskommt.

Aktuelles Beispiel: In San Francisco läuft ein Prozess gegen den Leichtathletik-Trainer Trevor Graham, der einen bemerkenswerten Kader an Sprintern betreut hat: Sie haben Medaillen gewonnen und Rekorde aufgestellt. Bis irgendwann.....

Marion Jones und Tim Montgomery, das einstige Liebespaar, landete vor Gericht. Sie sitzt im Gefängnis. Er muss noch. Ein weiterer Sprinter, Justin Gatlin, ist gesperrt. Alle drei sind über die Dopingbestimmungen gestolpert. Und alles nur weil sie so wie andere auch glaubten, die könnten das existierende System aus Urinkontrollen, Tests und Strafen austricksen.

Graham hat nach eigenen Angaben 2003 jene Injektionsspritze an das Doping-Labor in Los Angeles geschickt, in der sich das bis dahin noch nicht identifizierte THG befand, das ein gewisser Patrick Arnold in Illinois entwickelt hatte und ein gewisser Victor Conte über seine Firma BALCO unter dem Namen "the clear" unters Volk brachte. Das war eine gute Tat. Denn es war eine entscheidende Hilfe im Kampf gegen die Doping-Epidemie in der amerikanischen Leichtathletik.

Graham steht NICHT wegen Doping vor Gericht oder weil er allem Anschein nach den Stoff besorgt und verteilt hat, mit dem sich seine Sprinter aufpumpt haben. Die Ermittler, die ihn im Jahr 2004 vernommen haben, sicherten ihm etwas zu, was es im amerikanischen Strafrecht gibt, wo man viele Verfahren aus einem Tauziehen zwischen Anklagevertreter und Verteidiger bestehen und Zeugen mitunter Immunität, sprich Straffreiheit erhalten, damit sie mit der Staatsanwaltschaft kooperieren. Denn zur Aussage zwingen kann man in den USA niemanden. Einzige Bedingung in solchen Situationen: Sie müssen bei ihren Aussagen bei der Wahrheit bleiben.

Graham soll allerdings bei seiner Vernehmung gelogen haben (was er bestreitet) und dadurch die Behörden in ihrer Aufklärungsarbeit behindert haben. Das hat zu diesem Prozess geführt, in dem die Anklage auf uneidliche Falschaussage in drei Fällen lautet. Uneidlich, wohlgemerkt. Kein Meineid, wie Die Zeit online publiziert. Der Unterschied? Er ist so groß, dass es im deutschen Strafgesetzbuch dafür zwei unterschiedliche Paragraphen gibt: 153 und 154. Dazu kommt ein Rattenschwanz an Variablen und Abwägungen, jede schön in einen eigenen Paragraphen verpackt.

Unbedeutend? Ganz sicher nicht. Und in einem Prozessbericht aus Deutschland würde das sicher auch korrekt wiedergegeben. Aber diesmal geht um die USA. Und da nimmt man es schon mal bei der Übersetzung von relevanten Begriffen nicht so genau. Aber das ist noch nicht alles: Der Text beginnt mit einer hammerartigen Feststellung: "Die Beweislage ist eindeutig." Nicht "sieht eindeutig aus", "wirkt überwältigend", "dürfte schwer vom Tisch zu wischen sein". Nein glasklar: IST eindeutig. Was weiß der Autor, was wir nicht wissen? Oder ist er ein Meinungsmacher? Ein Kampagnenjournalist im Stil der BILD-Zeitung?

Der Autor redet dabei offensichtlich von den vielfältigen Dopinganschuldigungen an die Adresse von Graham (die er abstreitet). Von denen sind bereits vor dem Prozess eine ganze Reihe an die Öffentlichkeit gesickert. Aber Graham steht in San Francisco NICHT wegen Verstößen gegen das amerikanische Arzneimittelgesetz vor Gericht. Das heißt: Wenn es überhaupt um Beweislage geht, dann um die Frage: Kann ihm die Staatsanwaltschaft wirklich nachweisen, ob er gelogen hat? Der Nachweis muss so überzeugend sein, dass die Geschworenen "beyond a reasonable doubt" (jenseits eines jeden begründeten Zweifels) die Überzeugung gewonnen haben, dass die Vorwürfe stichhaltig sind. Und nicht nur das: Sie müssen bei ihren Beratungen zu einem einstimmigen Resultat kommen. Die Anklagevertreter brauchen ein 12:0 gegen Graham. Sonst gewinnt der Angeklagte den Prozess.

Weiß das der Autor? Weiß das der Online-Redakteur, der den Text beim Tagesspiegel abgegriffen hat, wo die Spur dann zum Mitarbeiter einer großen deutschen Nachrichtenagentur führt und mit etwas Googelei zu anderen Seiten, die alle bei diesem Falschmünzer-Spiel mitgemacht haben?

Trevor Graham muss damit rechnen, dass er im Gefängnis landet. Genauso wie die Bahnradsportlerin Tammy Thomas (die neulich als erste aus dem BALCO-Komplex einen Prozess riskierte und wegen Meineid (!) verurteilt wurde). Es kann sein, dass er gelogen hat. Aber das können wir auch noch schreiben, wenn die Geschworenen ihre Entscheidung bekannt gegeben haben.

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