Der Mann, der gewöhnlich über einen enormen inneren Kontrollimpuls das Spiel auf dem Platz und sein Bild in der Öffentlichkeit zu steuern versuchte, hat offensichtlich beschlossen, dass es besser für ihn ist, diese zwei Terrains komplett aufzugeben und hinter den Kulissen zu arbeiten, um den Overkill zu bekämpfen, der ihn effektiv handlungsunfähig gemacht hat. Was an den Spekulationen dran ist, wonach er eventuell als Nächstes mit seiner Familie nach Schweden umzieht – ah, Winter in Schweden, wenig Tageslicht, aber viel Melancholie – wird sich zeigen. Theoretisch wollte die Familie eigentlich im Frühjahr die riesige neue Bleibe auf Jupiter Island beziehen, deren Bauarbeiten sich hingezogen haben.
Der nächste Schachzug wird wohl von den Werbepartnern ausgehen, denen es nicht viel bringt, wenn sie die Werbespots nicht zeigen können, für die sie ihn und seinen Namen eingekauft haben. Das Verhalten der Firmen wird sich unweigerlich auf den Schwebezustand auswirken, in dem sich der 33-jährige zur Zeit befindet. Natürlich hat er soviel Geld, dass er niemals in seinem Leben wieder arbeiten muss. Aber es dürfte nicht seinem Naturell entsprechen, einen solchen Schritt in Erwägung zu ziehen.
Der Anlass scheint gekommen, mal wieder in jenem Buch nachzublättern, mit dem ich vor etwas mehr als zehn Jahren die Figur Tiger Woods von allen Seiten betrachtet habe, und hinter dessen Siegen sich schon damals "die erstaunliche Geschichte einer Ausbildung zu einem neuen Beruf: der des Champions" verbarg. "Eine Geschichte, die verdeutlicht, was jemand mitbringen muss, wenn er als Angehöriger einer ethnischen Minderheit in eine Welt hineindrängt, die seinesgleichen bis dahin nur als Köche und Caddies kannte."
Dies ist eine Passage aus der Einleitung, die damals zumindest andeutete, was Tiger Woods bevorstand und die die jüngsten Entwicklungen bereits skizziert.
"Es wird der Tag kommen, und dann wird er es wissen. Er wird sich auf die Höhepunkte seiner Karriere besinnen und im Kopf noch einmal die wichtigsten Ereignise zusammenrechnen: die Siege beim Masters in Augusta, wo sein Stern im Frühjahr 1997 aufging, als wäre er der neue Elvis Presley. Und die Triumphe bei den anderen Majors, die in jedem Sommer den Höhepunkt des Golf-Kalenders bilden.
Er wird einen Strich unter die Resultate bei den Ryder-Cup-Begegnungen ziehen und sich an die Match-Play-Duelle mit den besten Europäern erinnern. Er wird die siebenstelligen Betraege überschlagen, die er jedes Jahr an Preisgeldern verdient hat, und dann mit der für ihn typischen Entschiedenheit Bilanz ziehen und erklären, wie das Fernduell mit den großen Legenden Jack Nicklaus, Bobby Jones und Ben Hogan ausgegangen ist. Ob ihm tatsächlich gelungen ist, wovon er als kleiner Junge geträumt hat: als bester Golfspieler aller Zeiten in die Sportgeschichte einzugehen. Oder ob seine Laufbahn durch den Druck der Erwartungen einer ganzen Nation in ein handlicheres Format zusammengepresst wurde und er sich in der Ruhmeshalle des Sports mit einem Platz in der zweiten Reihe begnügen muss.
Zu welchem Ergebnis er bei seinem selbstkritischen Rückblick auch immer kommen wird - wir werden es ebenfalls wissen. Denn mit seinem Erscheinen ist seine Sportart, die früher allenfalls eine Handvoll von Experten beschäftigte, zu einem Ereignis geworden, das die Massen interessiert... Bis allerdings feststeht, wie gut er wirklich ist, werden noch einige Jahre vergehen. Eine Zeitspanne, in der wir, während er die ganz normalen Höhen und Tiefen einer Sportler-Karriere durchläuft, gelegentlich darüber nachdenken werden, weshalb Tiger Woods eine Beachtung erhält, die gemeinhin nur Figuren zufällt, die der Welt etwas bedeuten - Wohltäter etwa, und Würdenträger, Wissenschaftler und Weltverbesserer.
Allein an seiner Art, Golf zu spielen, kann es nicht liegen. Sein eleganter Schwung und seine lockeren Bewegungen verleiten sein Publikum allenfalls dazu, sich für die romantische Idee zu begeistern, einmal im Leben das majestätische Gefühl zu spüren, das bei den großen Turnieren über solch exotischen Orten wie Augusta, St. Andrews oder Pebble Beach schwebt. Sein spielerisches Können inspiriert seine Zuschauer bestenfalls dazu, mit etwas mehr Tiefenschärfe in die Seele eines altehrwürdigen Spieles zu blicken. Ein Spiel, das heute, nachdem es vor Jahrhunderten an den Küsten von Schottland ein profanes Freizeitvergnügen für jedermann war, mit seinen ritterlichen Herausforderungen an die Charakterfestigkeit der Spieler, seinen mysteriösen Ritualen und dem kuriosen Vokabular so wirkt, als existiere in seinem Kern eine geheimnisvolle philosophische Erkenntnis.
Es muss etwas anderes sein als pure Sportbegeisterung, die die Begeisterung für den 22jährigen Tiger Woods ausgelöst hat und die alte Demarkationslinie zwischen den esoterischen Anstrengungen eines Profisportlers und dem Unterhaltungsbedürfnis der Gesellschaft ausradiert hat.
Tatsächlich wäre diese ungewöhnliche Resonanz nicht ohne eine Entwicklung möglich, die sich unaufhaltsam in Amerika ausbreitet, wo eine wachsende Zahl von Athleten, ohne sich je danach gedrängt zu haben, eine Rolle übernehmen, die einst von Politikern, Professoren und Pastoren versehen wurde. Sie setzen in einem System von Bildschnipseln und Tonhäppchen als neue Leitbilder Zeichen für eine Diskussion um Wertvorstellungen und philosophische Prinzipien. Sie sind, auch dann, wenn sie nicht viel reden und - noch schlimmer - nicht viel zu sagen haben, die Quasi-Ideologen einer neuen Zeit. Einer Epoche, in der demokratische Kulturen in allen sozialen Bereichen nach Leistungshierarchien suchen und sich nach Eliteförderung sehnen. Und in der Spitzensportler vorleben, wie einfach eine solche Gesellschaft funktionieren kann, wenn sie perfekt organisiert ist und den immensen Leistungsabraum aus Verlierern und Sportinvaliden geschickt verdeckt: Man spielt und kämpft, akzeptiert alle Regeln und ein paar moralische Grundsätze wie Fairness und Teamgeist und vertraut darauf, dass man sich auf diese Weise nach oben arbeitet.
Das Besondere an Tiger Woods: Er ist nicht nur ein idealer Prototyp für die soziologische Umschichtung. Er ragt gleichzeitig - als dunkelhäutiges Wunderkind, das sich über alle Benachteiligungen hinwegsetzen konnte, weil es sein Leben lang nichts anderes getan hat, als Golf zu spielen, aus ihr heraus. Und zwar in einer Weise, die ihn zum ersten ernsthaften Kandidaten dafür macht, die politische Entwicklung, die vor einer Weile in Amerika begann, in andere Teile der Welt zu tragen. Die Voraussetzungen sind günstig. Die Sportart, die er repräsentiert, ist international und hat einen elitären Beigeschmack. Er hat einen griffigen Spitznamen, einen multikulturellen Background, tadellose Manieren und ein gewinnendes Lächeln. An seiner Seite stehen weltweit agierende Werbepartner, die in Größenordnungen von Milliarden denken - und nicht zu vergessen, er besitzt eine unwiderstehliche Art, mit einem Golfschläger umzugehen.
Bis wir beurteilen können, welchen Einfluss ein Individuum wie Tiger Woods auf das Sozialgefüge im globalen Dorf hat und welchen Einfluss das Gefüge auf ihn, werden wir uns allerdings noch eine Weile mit den Teilen eines Puzzles benügen und mit Fragen beschäftigen, die niemand beantworten kann, wenn ein Athlet im Raketentempo zum Medien-Phänomen wird und zum Futter für die Instant-Kultur, die darauf angelegt ist, alle möglichen Reiz-Rezeptoren zu stimulieren, ohne sie je wirklich zu befriedigen...
...Wie stark sein Charakter ist, sich auch weiterhin in dem mächtigen Energiekreislauf aus Sport, Glamour und Werbung zu behaupten, kann niemand sagen. Auch nicht sein redegewaltiger Vater Earl, der das Talent förderte und formte. Idole zehren nicht von der Macht der Marketing-Mechanismen. Sie reflektieren die Stimmungsströmungen einer Welt, die nach neuen Identifikationssymbolen sucht und die ihre Vorbilder nur so lange akzeptiert, wie sie den Ansprüchen genügen."
Aus Tiger Woods – Charisma für Millionen, erschienen 1998 im Sportverlag.
Der Züricher Tages-Anzeiger schrieb bei Erscheinen in seiner Rezension: "Ein Buch, das dort beginnt, wo die Tages- und Fan-Berichterstattung aufhört..."
1 Kommentar:
"(..) Athleten, (die) ohne sich je danach gedrängt zu haben, eine Rolle übernehmen, die einst von Politikern, Professoren und Pastoren versehen wurde. Sie setzen in einem System von Bildschnipseln und Tonhäppchen als neue Leitbilder Zeichen für eine Diskussion um Wertvorstellungen und philosophische Prinzipien. Sie sind, auch dann, wenn sie nicht viel reden und - noch schlimmer - nicht viel zu sagen haben, die Quasi-Ideologen einer neuen Zeit. (..) Sie reflektieren die Stimmungsströmungen einer Welt, die nach neuen Identifikationssymbolen sucht und die ihre Vorbilder nur so lange akzeptiert, wie sie den Ansprüchen genügen."
Das ist gut, wirklich gut. So gut, dass ich gerade große Lust bekommen habe, mir ein bestimmtes Buch zuzulegen. Danke für den Tipp! :-)
Gruß vom Kid
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