4. November 2008

Wahltag

Obwohl viele Umfragen den Ausgang der heutigen Präsidentschaftswahl als klare Angelegenheit voraussagen und kein ernsthafter Demoskop John McCain vorne hat, darf man davon ausgehen, dass die Sache ziemlich knapp wird. Das liegt an der Grundstimmung in den USA, wo es ein ziemlich großes Stammpublikum für die politischen Phantasien einer Ausbeutungsphilosophie gibt, die in vielen anderen Ländern überwunden wurde.

Grob gesagt geht das Problem auf die Zeit zurück, als sich die Farmer und Plantagenbesitzer der 13 Kolonien an der Ostküste von der britischen Krone lossagten und sich im Blick nach vorn zwar von den progressiven Prinzipien Freiheit und Gleichheit leiten ließen. Solidarität jedoch – die dritte große Idee der französischen Revolution (fraternité) – stand nicht auf dem Zettel. Auch das Konzept von Gleichheit galt anfänglich nur beschränkt. Sklaverei? Kein Problem. Die Staatsgründer hatten schließlich selber welche. Indianer? Kein Problem. Kann man massakrieren und vertreiben.

Im Laufe von 200 Jahren, in denen sich die USA über den gesamten Kontinent ausdehnten, einen blutigen Bürgerkrieg um die Macht im Staat ausfochten und in mehreren Phasen Millionen von weißen Einwanderern aus landwirtschaftlich geprägten Schwerpunktländern in Europa in den Industrialisierungsprozess integrierten, produzierte die Dynamik der realpolitischen amerikanischen Innenpolitik zwar Anpassungen an eine konsequentere Vorstellung der Menschenrechte, aber der ganz reale Rassismus wurde nie ausradiert. Er ist noch heute eine der Quellen für den Anti-Obama-Wahlkampf.

Obama benutzt zwar nicht die Vokabel "Solidarität", aber in seinem Sensorium existiert zumindest eine Vorstellung davon, warum eine funktionierende Gesellschaft ein Minimum an einer über zentrale Regierungen gesteuerten Umverteilung des erwirtschafteten gesellschaftlichen Ertrags braucht. Und zwar weniger als ethischer Imperativ (wie ihn Religionsgemeinschaften sehen, die sich denn auch in den USA intensiv im karitativen Bereich engagieren), sondern als simple Rechenaufgabe. Eine Nation, die nicht in die Bedürfnisse der Schwächeren investiert und ihre Lebensverhältnisse verbessert, produziert ein schlechteres wirtschaftliches Gesamtresultat.

Es gibt in den Vereinigten Staaten mehr als nur ein bizarres Beispiel für solche Fehlsteuerungen: Das Gesundheitswesen, das pro Kopf sehr viel mehr kostet als das aller anderen Länder, aber in den Statistiken, die wirklich zählen, weit zurückliegt – Kindersterblichkeit und Lebenserwartung. Ein weiteres Beispiel: Etwa 2 Millionen Amerikaner sitzen im Gefängnis, ein Prozentsatz, der dem totalitär geführter Nationen entspricht. Die Kosten für den Unterhalt der Insassen (inklusiver ärztlicher Versorgung) und der Produktionsverlust für die gesamte Gesellschaft ist exorbitant. Dazu kommt ein Bildungswesen, das zwar an der Spitze ein paar Glitzer-Institutionen vorweisen kann (Ivy League, MIT etc.), aber unter der Decke eine verblüffende Realität verharmlost. Rund ein Drittel aller Schüler verlässt die High School vor dem Abschluss und hat (anders als etwa in Deutschland) nur wenige Möglichkeiten das Versäumte später nachzuholen. Wer ins College gehen will, muss sich aufgrund der enormen Studiengebühren ganz beachtlich verschulden. Das System hat zwar im Laufe der Jahrzehnte immer wieder enorme Entwicklungsschübe produziert (Flugzeug- und Weltraumtechnologie, Computer, Biotechnologie), aber die fanden in einer Zeit statt, in der China kein Wirtschaftsfaktor war. Im nächsten Jahr wird das Milliardenland die USA in einer Kategorie den ersten Platz abgeben, den es mehr als hundert Jahre inne hatte: nationale Industrieproduktion.

Man darf davon ausgehen, dass John McCain von all diesen Dingen nicht nur nichts versteht, sondern sich auch nicht dafür interessiert. Er hat eine reiche Frau und acht oder mehr Wohnungen und Häuser. Seine Rhetorik verrät einen kindlichen Optimismus, wonach ein stark verschuldetes Land mit enormen sozialen Lasten auch ohne eine kompetente Regierung in der Lage sein wird, für die Wohlfahrt seiner Bürger zu sorgen. Nach dem Motto: Steuern senken, Staatsausgaben senken, der Rest kommt von alleine. Man darf auf der anderen Seite davon ausgehen, dass sich Barack Obama nicht nur mit solchen Fragen beschäftigt hat, sondern den Willen besitzt, sie auch anzupacken.

Dass ein schwarzer Politiker Präsident werden kann und vermutlich auch wird, zeigt jenseits der rein symbolischen Bedeutung, wie sehr die Karre im Dreck sitzt und wie sehr die alte regierende Kaste versagt hat. Die USA brauchen dringend Leute an der Spitze, die ihre Intelligenz auf etwas anderes verwenden, als sich auf Kosten der Mehrheit zu bereichern und dies dieser Mehrheit als große politische Errungenschaft zu verkaufen. Obama wird nicht das ganze Land umbauen können, aber vermutlich neue Schwerpunkte in der Aufarbeitung der angehäuften Probleme setzen. Heute abend wissen wir noch nicht, ob das auch passsiert. Aber wir werden wissen, wer gewonnen hat. Und das ist auch schon etwas wert. Vor allem in einem Land, das bereits beim Ausrichten einer demokratischen Grundübung wie dem Wählen ihrer Repräsentanten nicht ordentlich zu zählen versteht. (Remember 2000 und Florida?)

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