Wir sind an diesem Samstagmorgen auf dem Flughafen Tegel angekommen, wo es lange Schlangen von Menschen gab, die anstanden, um sich ein Begrüßungsgeld abzuholen. Ich habe damals ein paar von den Wartenden gefragt, ob sie Englisch sprächen und ob sie bereit wären, sich für eine amerikanische Fernsehsendung interviewen zu lassen. Das war nämlich mein Job an diesem Wochende im November. Dafür hatte mich die Redaktion von Inside Edition angeheuert – und weil ich die Stadt kannte. Ich sollte zwei Reporter begleiten, die mit mir zusammen am Tag zuvor von New York aus in Marsch gesetzt wurden.
Ich hatte zur Sicherheit noch jemanden in Berlin angeheuert, um in dem Heuhaufen aus schüchternen, besorgt drein blickenden DDR-Bürgern jene zu finden, die eine Geschichte zu erzählen hatten, die nach den Vorstellungen der Fernsehredaktion umgefähr so aussehen sollte: Zwei Geschwister treffen sich zum ersten Mal seit dem Bau der Berliner Mauer wieder, liegen sich in den Armen und genießen öffentlich, was unter anderen Umständen ihre Privatsache wäre: Die Aufhebung einer unüberwindbaren Grenze, an der in den Jahrzehnten zuvor Menschen erschossen worden waren, die versucht hatten, vom Osten in den Westen zu wechseln.
Das war natürlich der typische amerikanische Traum. Eine Illusion. Nicht getrübt vom Wissen um Passagierschein-Abkommen und Rentnerbesuche und all den anderen bürokratisch gesteuerten Kanälen, die in den Jahren nach 1961 die Grenze wenn nicht geschleift, so doch durchlöchert hatten. Mittags hatten wir unsere erste Besprechung mit den beiden Kamerateams, die aus Paris angereist waren. Wir beschlossen einen Plan für den Produktionsablauf. Wir wollten nachmittags am Brandenburger Tor drehen, anschließend am Checkpoint Charlie und abends in in den Kneipen in der Nähe vom Kudamm. Am Sonntagmorgen wollten wir bei der Öffnung eines Stücks der Mauer in der Einöde des Pariser Platzes dabei sein und in dem Strom der Besucher aus dem Osten jenes herbeigesehnte emotionalisierte Wiedersehen filmen und dann diese Menschen in West-Berlin begleiten.
Was ich am Brandenburger Tor sah, war vor allem deshalb bemerkenswert, weil die breite Avenue, deren Namen an einen anderen Tag in der Geschichte des ostdeutschen Widerstands gegen die aufgezwungene Herrschaft einer einzigen Partei erinnerte, mit Plattformen voll gestellt war, auf denen sich zahllose Kamerateams eingerichtet hatten. Von hier aus hatten die Leute von NBC jene Einstellung eingefangen, in der Anchorman Tom Brokaw am 9. November in den Abendnachrichten live die Nachricht von den Menschen auf der Mauer gebracht hatte. LIVE. Ich hatte das in New York gesehen. Zusammen mit Millionen von Amerikanern, die sich in diesem Ereignis irgendwie widergespiegelt sahen. Die Menschen in der DDR hatten das geschafft, was man ihnen in den USA seit dem Beginn des Kalten Krieges so sehr gewünscht und gegönnt hatte: Die Freiheit des Westens.
Was mir am Brandenburger Tor auffiel: dass die Kameras von ARD und ZDF, die damals so gerne mit dem Spruch warben, man säße bei ihnen in der ersten Reihe, tatsächlich erst in der zweiten Reihe postiert waren. Die amerikanischen Sender hatten den Braten wohl eher gerochen und sich rechtzeitig von weit weg aufgemacht, um sich einen Ausguck zu bauen und ihren Zuschauern ein Spektakel zu bieten, das einst als Fata Morgana verlacht worden wäre: Dass Menschen auf der Mauer stehen und tanzen und sich in den Armen liegen und trinken. Ich habe an diese Wochenende Geschichten von deutschen Reportern gehört, die ihre festgebuchten Reservierungen auf Flügen nach Tegel verloren hatten, weil findige amerikanische Medienleute mehr boten. Nun war ich also einer von ihnen: den "Amerikanern". Weshalb ich nichts dabei fand, am Montagmorgen in Tegel einen der beiden Reporter, mit denen ich gekommen war, auf eine ausverkaufte Maschine nach Paris zu boxen. Der Mann musste schließlich in Charles-de-Gaulle die Concorde erwischen, um das geschnittene Videomaterial nach New York zu transportieren. Es war zwar nur eine Sicherheitsmaßnahme, weil man sich bei Inside Edition Sorgen machte, dass die Übertragung über den Satelliten funktionieren würde. Aber es bedeutete nichts anderes als: das Unmögliche möglich machen.
Wir haben an diesem Wochenende eine Menge guter Bilder gedreht und zwei Beiträge produziert. Mit Leuten, die auf der Westseite an der Mauer herumhacken, mit hupenden Autos, die aus dem Osten durch den Übergang an der Friedrichstraße kamen, mit jungen DDRlern in den Kneipen am Kudamm. Die Geschichte mit der Familienzusammenführung kam nicht zustande, obwohl wir über eine Stunde lang in der dunstigen Kälte am Pariser Platz standen und lauerten. Am Ende konnte ich eine Familie mit einem kleinen Jungen überzeugen, dass wir sie begleiten durften. Was für sie sprach: Es war ihr allererster Besuch im Westen. Der kleine Junge war ein attraktiver Kamerablickfang. Und der Ehemann sprach wenigstens ein paar Fetzen Englisch. Für die sehr zurückhaltenden, sehr introvertierten Ost-Besucher hatte die Sache sogar ein paar Vorteile. Wir hatten Autos, um ihnen den Westen zu zeigen. Und wir hatten Westmark. Sie mussten sich nicht in die Schlangen für das Begrüßungsgeld anstellen.
In der Nacht zum Montag wurden die Beiträge in einem Studio in Charlottenburg geschnitten. Ich fuhr früh den einen Reporter direkt von dort zum Flughafen, nachdem ich in unserem Hotel seine schmutzige Wäsche in seinen Koffer gepackt hatte. Am frühen Abend fuhr ich nach Kreuzberg, wo ich an einem improvisierten Übergang ein paar Brocken der aufgehackten Betonmauer aufsammelte und in die Tasche steckte. Die Ost-Grenzer dort wirkten entspannt. Ich dachte: Jetzt wäre doch ein idealer Zeitpunkt, um einfach mal in den Osten zu fahren und sich anschauen, wie es dort aussieht, nachdem Millionen von Ostmenschen in den Westen gegangen und wieder in ihre Wohnungen zurückgekehrt waren. Ich hatte keinen Plan. Ich wollte mich treiben lassen, vielleicht am Alex herumlaufen, wo mir jemand viele Jahre zuvor beim Schwarztausch DDR-Geld vermacht und mich dabei belogen hatte: "Was du nicht ausgibst, kannst du bei deiner Rückkehr an der Grenze wieder zurücktauschen."
So ging ich am Übergang Heinrich-Heine-Straße auf den Wachposten zu und zeigte den beiden Uniformierten meinen Pass. Sie sahen überhaupt nicht freundlich aus, eher grimmig und verstimmt. Aber was noch besser war: Sie erklärten mir, sie könnten mich nicht reinlassen. Ich war verblüfft. Alle dürfen raus, aber unsereins darf nicht rein? Ich wurde belehrt: Wer ein Tagesvisum für den Ausflug nach Ost-Berlin haben wollte, der musste bis 16 Uhr an der Grenze erschienen sein. Wer später ankam, wurde zurückgewiesen. Bestimmungen waren eben Bestimmungen.
Das passte irgendwie zu der Erinnerung an jene Silversternacht in den frühen achtziger Jahren, als ich mit einem Freund und tausend anderen Neugierigen kurz vor Mitternacht auf den Kreuzberg wanderte, um von dieser nicht besonders hohen natürlich Erhebung aus das Feuerwerk über der Stadt zu sehen. Als um 12 Uhr die Raketen hochschossen, sah man nur im Westen, wie die Leuchtspurgeschosse durch die Luft flogen. Der Osten Berlins war komplett dunkel. Auch an diesem Abend blieb für mich der Osten einfach dunkel.
Ich bin ein paar Tage später nach New York zurückgeflogen und las auf dem Weg die neueste Ausgabe der ZEIT mit einem Artikel von Martin Ahrends, der einige Jahre zuvor in den Westen gewechselt war. Er schrieb darin über die "Freiheit des Ostens", jene schwer zu erklärende und doch so ganz reale Gemengelage, die hervorragende Schriftsteller, sehr gute Musiker und begabte Maler hervorgebracht hatte, mit denen ich mich einst in meinen Jahren in Berlin in der Halbdistanz so gerne beschäftigt und sie doch nie richtig verstanden hatte, weil wir in der gemeinsamen Sprache dann doch nicht eine gemeinsame Sicht der Welt formulieren konnten.
Ich hatte die Betonbrocken im Gepäck und habe sie nach meiner Rückkehr in einer kleinen Plastikschachtel dem Redakteur von Inside Edition geschenkt, dessen Tochter damit anschließend in die Schule ging, um ihren Mitschülern ein piece of history zu zeigen. Den einen Reporter sehe ich jetzt manchmal, aber ungerne bei Fox News im Fernsehen. Er ist ein big shot. Seine politischen Ansichten sind mir zuwider. Mit der Familie aus der DDR habe ich noch ein paar Monate lang Briefe ausgetauscht, die mir das Gefühl gaben, dass die drei noch immer auf einem anderen Planeten leben und ich ihnen nicht die Spur meiner Welt erklären kann, selbst wenn ich wollte. Bei Martin Ahrends habe ich mich wenig später bedankt. Zunächst per Brief. Und dann auch persönlich. Er hat mir damals ein Stück Welt erklärt. Weshalb ich heute aus Anlass dieser 20-Jahre-Erinnerungs-Nummer diesen Text noch mal hervorkramen werde. Zum Glück kann man ihn inzwischen online lesen.
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