Am Tag danach hat in Deutschland eine Bestandsaufnahme stattgefunden, die angesichts der Geschwindigkeit, mit der diese Texte entstehen müssen, schlichtweg erstaunlich ist. Vor allem, wenn man die Gravitas berücksichtigt, die sich bei solchen Gelegenheiten einschleicht. Das muss man sich mal vorstellen: Da hat die liebste Mannschaft der Nation ein Match mit dem knappsten aller Ergebnisse mit 0:1 verloren. Und schon setzt es Analysen, die so tun, als sei Zeit für Katharsis.
Das Verlangen ist immer das Gleiche. Es entspringt dem Impuls einer enttäuschten Kritikergemeinde, die sich gewöhnlich sehr sachverständig und wohlwollend mit dem Fußball im Großen und im Kleinen beschäftigt. Aber nach den wochenlangen sorgenvollen Blicken über den Zaun am Rand des Mannschaftslagers im Tessin und dem permanenten Lugen durch die Ritzen dieses inszenierten Schweigens, bei dem jede Pressekonferenz und jedes Round-Table-Gespräch absolut nichts Neues produziert, mag der Kritiker nicht länger zurückhalten mit den Vorbehalten. Denn er weiß es und hat es schon immer gewusst, dass diese Niederlage symptomatisch und wegweisend zugleich war: "Die Probleme sind fundamentaler." (Ralf Köttker in der WELT). Vermutlich gibt es da nämlich mehr als jene "inneren Widersprüche und sportlichen Defizite" im Team, die Philip Selldorf (Süddeutsche Zeitung) erspäht hat. Mehr als den Irrglauben im Führungskader der Auswahl, wonach "Spiele schon allein aufgrund spielerischer und taktischer Klasse" gewonnen werden können (Michael Horeni in der FAZ). Es muss da noch irgendwo unter dem Rasen von Wien eine tiefe Wahrheit über die deutsche Mannschaft geben. Und die muss ausgebuddelt werden.
Nennen wir es den deutschen Reflex. Auch so eine Tugend wie die anderen, die im Rest der Welt gerne sterotyp den Nachkommen der Germanen zugesprochen werden. Und zwar Reflex im doppelten Sinne – als Nervenimpuls und als Ableitung von "Reflexion". In dem vorliegenden Fall gehören dazu Betrachtungen über Handlungsbedarf, allerlei Beschwerden, der Gestus des Analytischen und bei manchen auch das Insinuieren (etwa von massiven internen Meinungsunterschieden, die niemals als positiv bewertet werden. Meinungsunterschiede sind nach einer landläufigen Basisannahme professioneller Kritiker einfach Gift. Dialektik? Nein, danke.).
Wer vergessen hat, was Heinrich von Kleist mal in diesem Zusammenhang geschrieben hat, dem sei es noch einmal in Erinnerung gerufen: "Wir sehen, daß in dem Maße, als in der organischen Welt die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie immer strahlender und herrschender hervortritt." Der Umkehrschluss ist in diesem Zusammenhang noch reizvoller: Je mehr man bei der Betrachtung des Showgeschäfts aufs Nachdenken und auf Bespiegelungen verfällt, desto mehr verliert man den Blick für die Aufführung selbst.
Bei der Darbietung der deutschen Fußballer am Sonntag in Wien wäre dann doch wohl als allererstes mal festzuhalten, dass die Männer in Weiß-Schwarz wirklich nur Statisten waren. Mit anderen Worten: Sich mit ihnen zu beschäftigen und ihre mimischen Darbietungen zu charakterisieren oder auch noch gar zu interpretieren, wäre mithin so aussagestark wie die Kritik einer Aufführung der Verdi-Oper Nabucco, die sich hauptsächlich dem Gefangenenchor und seinen Mitgliedern widmet. In einem solchen Ensemble machen auch ganz ordentliche Sänger mit, aber um eine Analogie zu benutzen, die dem dogfood von allesaussersport abgeluchst ist: Im Chor landen jene, "die nicht die Werkzeuge und die Spielintelligenz" haben, "die im Spiel sich stellenden Probleme zu lösen": ein Solo hier, ein verdammt hohes C dort, eine Theatralik, die überzeugt, Timing, Einvernehmen mit dem Dirigenten des Orchesters etc.
Vielleicht klingt das komisch. Aber sollte man sich an einem solchen Tag nicht zuerst und überhaupt nur mit den wirklichen Stars auf der Bühne beschäftigen? Und herausfiltern, wo bei denen die Musik spielt und mit welchem Singsang die arbeiten? Auf der Suche nach deutschsprachigen Beiträgen, die sich vor und nach dem Finale mit dem spanischen Kunstwerk beschäftigen haben, konnte man tatsächlich so einiges lernen (Vielleicht kapieren es die nächste deutsche Nationalmannschaft und der DFB und der Jogi noch rechtzeitig vor der kommenden WM, vielleicht auch nicht):
"Tatsächlich ist Spaniens Kurzpassfußball allenfalls auf den ersten, oberflächlichen Blick selbstverliebt. In Wirklichkeit wissen sie ihn taktisch exzellent einzusetzen....Keine Elf bei der EM ließ weniger Torchancen zu...." Ronald Reng in der Financial Times
"Wir haben diesen Kader seit vielen Jahren verfolgt... Fàbregas machte als U17-Spieler bei einer unserer Endrunden erstmals auf sich aufmerksam. Wir haben verfolgt, wie die spanische Mannschaft den letzten U17-Wettbewerb in der Türkei gewonnen hat und es war eine der besten Leistungen, die ich je von einer Jugendmannschaft gesehen habe. Die Spanier werden weiterhin versuchen, die nächste Generation weiterzuentwickeln.....Man muss den Spanischen Fußballverband loben. Sie haben mit viel Arbeit und Einsatz die Spieler weiterentwickelt. Gestern Abend haben sie an ihrer Philosophie festgehalten, sie haben nicht versucht, etwas zu ändern. Sie sind nicht besonders groß gewachsen, deshalb muss man schnell, intelligent und technisch begabt sein.... Ihre Spielweise ist fantastisch kreativ. Es geht dabei um technische Qualitäten, Ballbesitz, brillante Kombinationen, und die Fähigkeit, selbst unter enormen Druck den Ball behaupten." Andy Roxburgh, Technischer Direktor der UEFA.
"Sie beherrschen unterschiedliche Formen des Angriffspiels. Als Konter-Kombinierer sind sie zu überfallartigen Angriffen genauso in der Lage wie zu geduldigen Passfolgen, bis ein Loch in der gegnerischen Abwehr gefunden ist. Ja, die Mannschaft von Aragonés kann sogar das schnelle und langsame Spiel in einem Angriffszug miteinander verbinden, den frühen Pass und den ganz späten." Christoph Biermann auf SpOn.
"Wir sind die Besten!“ tönt das Sportblatt Marca. „Klar schaffen wir das!“, heißt es bei As, Unterzeile: „Spanien erhebt den Fußball in den Rang der Schönen Künste.“ Dort also wollen sie hin, ins Museum, in die Kulturgeschichte. Ein höheres Ziel hatte noch niemand." Paul Ingendaay, FAZ.
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