Im Schnitt zweimal in der Woche kann es einem in New York passieren, dass man in seinem Auto sitzt und wartet, dass die Zeit vergeht. Das liegt daran, dass die Straßenreinigung mit ihrem großen Besenwagen durchkommt, dass man gefälligst seinen Wagen aus dem Weg räumt (sonst setzt es teure Knöllchen), dass man notwendiger Weise auf der anderen Seite der Straße in der zweiten Reihe parkt und anschließend sein Gefährt wieder zurückstellt. Aber solange nicht die offizielle alternate side parking in effect-Uhr abgelaufen ist, kann man die Kiste nicht einfach stehen lassen und nach Hause gehen. Man muss jeder Zeit fahrbereit sein (sonst setzt es teure Knöllchen, die Kontrolleure sind unerbittlich).
Montags kann man die Zeit gut nutzen, um einer Beschäftigung nachzugehen, die aufgrund des Internets so total nach 20. Jahrhundert wirkt: Die dicke fette New York Times vom Sonntag durchstöbern und lange Artikel lesen, wie sie in der farbigen Sportbeilage namens Play publiziert werden. Die Geschichten gibt es auch online. Aber irgendetwas an der Darbietung wirkt weniger animierend, weniger tief, weniger lesenswert. Was natürlich Humbug ist, abgesehen von den großformatigen Aufmacherfotos und dem Blättern entgeht einem gar nichts. Der Unterschied besteht vor allem im Faktor Zeit. Die getriebene, fast nervöse Informationsbeschaffungsmethode im Netz, durchmengt von Google-Alerts, Blog-Lektüre, Nachrichtenüberblicken und Meinungsbeiträgen fördert einen Selektionsprozess, der es schwerer macht, den Stoff zu finden, den man zur eigenen Fortbildung wirklich gerne durchkauen würde. Das Internet ist gut, um den Stimulanz-Sektor im Hirn zu bedienen und sich einen schnellen Fix zu besorgen. Aber es verstellt aufgrund seiner reduzierten Darbietung des Angebots den Blick für den lohnenden, weiter gehenden Lesegenuss.
Für die New York Times am Sonntag braucht man im Schnitt zweieinhalb Stunden, weil sie in jedem Produkt mindestens eine ausführliche Geschichte einbaut, die einem an der eckigen, kalten, verworrenen Welt da draußen ein Stück Hintergrund mitliefert, das man braucht, wenn man Entwicklungen verstehen will. Manchmal braucht man auch länger. Wie zum Beispiel an diesem Wochenende, an dem Play eine 7000 Wörter lange Geschichte von Daniel Coyle veröffentlicht hat, die sich mit der Frage beschäftigt: Wie fördert man den Nachwuchs auf eine Weise, so dass das Ausbildungssystem am Ende eine überdurchschnittlich hohe Zahl an Topsportlern hervorbringt? Was ist mit den Genen? Was mit den Lebensumständen? Was ist mit der Trainingspraxis?
Coyle war in Moskau, um das Tenniswunder zu begutachten, dass unter den schwierigsten räumlichen Bedingungen existiert und russische Weltranglistenspielerinnen am Fließband produziert. Er hat sich Gedanken darüber gemacht, weshalb so viele gute Baseballprofis aus der kleinen Dominikanischen Republik die Profiliga in den USA bevölkern. Und weshalb ein Land wie Südkorea so viele Golferinnen produziert, die wegen ihrer Erfolge eine amerikanische Institution namens LPGA von innen heraus langsam platt machen - ein Wirtstier, das sich hilflos einer Tropenkrankheit ausgeliefert sieht.
7000 Wörter kann man hier nicht mal annähernd kohärent zusammenfassen. Nur soviel: Coyle war auch bei Leuten zu Besuch, die sich um die Erforschung des körperlichen und muskulär-nervlichen Zusammenspiels von Trainingsaktivität und Motorik kümmern. Nichts Gespenstisches. Nichts, was nach Doping oder Manipulation riecht, sondern etwas, das vor allem Grundlagenverständnis liefert. Daran fehlt es in diesem überschwappenden Informationsozean insbesondere im Sportbereich mehr denn je. Deshalb geht hier die Empfehlung an alle heraus, die sich nicht mit dem akuellen Tabellenstand der Bundesliga und dem Zählen von Medaillen begnügen: Lesen bitte. Zeitnehmen. Notfalls im Auto (vorher den Artikel ausdrucken, ist doch klar...). Vorteil für Internet-Nutzer: Die Zeitung hat ein informatives Video produziert, das den Nervenforscher und seine Arbeit beschreibt.
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